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Noch einmal: die Sache mit der Seele

[Bitte den Artikel "Die Sache mit dem Ich" vorher lesen.]

 

von Dr. H.W. Schumann

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Votiv-Tafel im National-Museum Delhi

 


Sicherlich drei Mal täglich, vielleicht öfter, benutzt jeder das Reflexivpronomen in Sätzen wie: ich wasche mich, du frisierst dich, er (oder sie) freut sich, wir treffen uns, ihr verabschiedet euch, sie entfernen sich. Das Reflexivpronomen oder "rückbezügliche Fürwort" verweist auf das Subjekt des Satzes zurück.

Im Sanskrit und Pāli wird als Reflexivpronomen das Wort (Skt.) ātman, (P.) attan (in der Deklination des Singulars) benutzt, das wörtlich (ewige) "Seele" bedeutet, von den frühen Übersetzern aber gewöhnlich als "Ich" oder "Selbst" wiedergegeben wird. Und hier beginnt das Problem, denn wenn das Pāli-Wort nicht als Reflexivpronomen erkannt wird, erscheint es in der Übersetzung als das Substantiv "das Selbst" (groß geschrieben!) und es scheint dem zu widersprechen, was der Buddha durch seine An-atta-, seine Nichtseelen-Lehre klargestellt hat: Dass ein (Skt.) ātman, (P.) attan, eine den Tod überdauernde Seele nicht existiert. Die Daseinsformen einer Wiedergeburtenkette sind nicht verbunden durch einen Seelenfaden, der sich unveränderlich und zeitlos durch alle Einzelexistenzen hindurch zieht, sondern durch Kausalität, indem Vorexistenz a die Nachexistenz b "bedingt". Tatsächlich lehrt der Buddha Wiedergeburt ohne transmigrierende Seele.

Die irreführende Übersetzung des Reflexivpronomens durch das Substantiv "das Selbst" hat auch in die Dhammapada-Übersetzung des Ehrw. Ñāṇatiloka Mahāthera Eingang gefunden, die der Autor 1943 im Internierungslager Dehra-Dun (Indien) angefertigt hat. In zahlreichen späteren Aufsätzen und Büchern, unter anderem in seinem sehr nützlichen "Buddhistischen Wörterbuch" von 1952, hat der große Bhikkhu die An-atta-Lehre des Buddha treffend beschrieben - das Manuskript seiner alten Dhammapada-Übersetzung aber nahm er nicht mehr zur Hand. Ñāṇatiloka starb 1957 auf der Insel Ceylon. Unrevidiert ist seine Übersetzung dann 1992 im Druck erschienen.

Zur Demonstration einer modernen Übersetzung mit der irreführenden von 1943 werden die beiden Fassungen im folgenden nebeneinander gestellt. Wiedergegeben wird das komplette 12. Kapitel des Dhammapada, bestehend aus den Strophen 157 bis 166. Es trägt im Pāli den Titel "Attavagga" - was alle bisherigen Übersetzer verdeutschen durch "Das Selbst-Kapitel". Treffender wäre die Titelangabe "Das Kapitel über die eigene Person", denn es beschreibt, wie man zuerst sich selbst (nicht aber "das Selbst") ethisch in Ordnung bringt, bevor man daran geht, andere Menschen belehren zu wollen. Vom Metrum geforderte kleine Zusätze stehen in Klammern.

Nr. Nyanatiloka
157 Wer selber sich als wert ansieht,
der gebe auf sich selber acht.
Ein Drittel jeder Nacht verbring'
der Weise wach (und klarbewusst).
Wem teuer gilt das eig'ne Selbst,
der hüte es in rechter Hut,
und eine der drei Nachtwachen
bleib wachsam der verständ'ge Mann.
158 Zuerst verschaffe man sich selbst
in dem was recht ist festen Stand.
Dann mag man andere belehr'n:
So hält der weise Mann sich rein.
Zuallererst befest'ge man
das eig'ne Selbst auf rechtem Pfad,
und dann erst lehr' man andere:
So schadet sich der Weise nicht.
159 Wenn man sich selber so erzieht,
wie man die anderen belehrt,
mag man, erzogen, andre schul'n.
Schwer ist's, sich selber zu erziehn.
Wenn man sein eigen Selbst so macht,
wie man den andern unterweist,
mag man, bezähmt, den andern zähmen.
Ja, schwer bezähmbar ist das Selbst.
160 Man selber ist sein eigner Herr,
wer anders könnte Herr uns sein?
Wer selber sich gebändigt hat,
hat einen Herrn, den 's selten gibt.
Das Selbst ist unser eigner Schutz;
Welch and'rer könnt' wohl Schutzherr sein?
Im wohlbezähmten Selbst erlangt
man Schutz, der schwer erlangbar ist.
161 Das Böse, das man selber tat,
das man erdacht und ausgeführt,
zerreibt den einsichtslosen Mann
wie Diamant das Felsgestein.
Die böse Tat, durchs Selbst getan,
durchs Selbst gezeugt, durchs Selbst gewirkt,
zermalmt den einsichtslosen Mann
wie Demant einen Edelstein.
162 Wen Sittenlosigkeit umrankt,
wie Schlinggewächs den Sala-Baum,
der tut sich selber das an, was
sein Feind (in seinem Hass) ihm wünscht.
Wen völl'ge Sittenlosigkeit
lianengleich umschlungen hält,
der machet so sein eigen Selbst,
wie es sein Feind ihm gerne wünscht.
163 Ungutes tun ist leicht, und das
was einem selber schädlich ist;
was aber heilsam ist und gut,
das wird nur äußerst schwer vollbracht.
Das Böse ist gar leicht vollbracht
und das, was einem Unheil bringt;
Doch was da heilsam ist und gut,
das wahrlich ist gar schwer zu tun.
164 Der Mensch, der arm ist an Verstand,
die Lehre und die Heil'gen schmäht,
die lehrgemäß ihr Leben führn:
er stützt auf böse Denkart sich
und schafft als Früchte Feuerholz
zu seinem eignen Untergang.
Wer da der Heil'gen, Edlen Ordnung,
der dem Gesetze Lebenden
beschimpft, solch unverständ'ger Tor,
auf böse Ansichten gestützt,
zeugt Früchte wie das Bambusrohr
zu seinem eignen Untergang.
165 Man selbst hat böse Tat getan:
man selbst hat sich damit beschmutzt;
man selbst ließ Böses ungetan:
so wird man durch sich selber rein.
Unrein und rein wird man durch sich,
niemand macht einen andern rein.
Durchs Selbst wird böse Tat getan,
bloß durch sich selbst wird man befleckt;
Durchs Selbst bleibt Böses ungetan,
bloß durch sich selber wird man rein.
?rein', ?unrein' hängen ab vom Selbst,
und keiner andre läutern kann.
166 Das eigne Ziel gib niemals auf,
auch nicht für's große Ziel des andern.
Hat man das eigne Ziel erkannt,
bleib' immerzu man drauf gerichtet.
Das eigne Heil gib nimmer preis
für andrer Wohl, sei 's noch so groß.
Hast du dein eig'nes Heil erkannt,
so gib dem eignen Heil dich hin.

 

Das Ziel (attha, Skt. artha) ist die Arhatschaft. Freilich darf das eigene religiöse Ziel den Heilssucher nicht hindern, sich auch für andere einzusetzen - wenn dieser Einsatz nicht so weit geht, dass er sein eigenes Ziel vergisst.

Soweit das Kapitel 12 des Dhammapada. Der Vergleich der Übersetzungen zeigt, dass das Substantiv "das Selbst" das Reflexivpronomen "sich selbst" oder "sich selber" nicht ersetzen kann. Im Gegenteil: Es führt in die Irre, weil es den Anschein erweckt, dass ein Selbst als Gegebenheit existiere.

Um es klarzustellen: Die Erkenntnis, dass das Wort attan auch als Reflexivpronomen verwendet wird, ist nicht neu. Vorgetragen hat sie schon der leider fast vergessene Berliner Theravāda-Lehrer Dr. Kurt Schmidt (gest 1975) in seinem Buch "Sprüche und Lieder" (1954) auf Site 8. Dort heißt es:

Missverständlich ist es, wenn man "attā" in den Sprüchen mit "das Selbst" übersetzt; es ist hier meist nichts anderes als das Reflexivpronomen "sich" oder "er selbst", im Genitiv "sein eigener".

Es lohnt sich, Schmidts Werke mal wieder in die Hand zu nehmen.

 

 

Anmerkung:
Eine Liste der Bücher Dr. Schumanns finden Sie hier.

 

 

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